Kritik der Kriminologie – zum „falschen Bewusstsein“ einer Wissenschaft

Title: Kritik der Kriminologie – zum „falschen Bewusstsein“ einer Wissenschaft

Speaker: Reinhard Kreissl

Panel 7: Heinz Steinert Symposium

Date: 10. April 2021


Von der kritischen Kriminologie zur Kritik 

Das Verhältnis von Heinz Steinert zur Kriminologie war immer distanziert. Als wissenschaftliche Disziplin hat er sie mehr oder weniger kategorisch abgelehnt. Solidarisch war er wissenschaftspolitisch mit der Kritischen Kriminologie, wenn es um deren Kritik an der konventionellen, täter-orientierten oder ätiologischen Fraktion der Disziplin ging. 

Der theoriestrategische Gewinn dieser Weigerung, sich die Grundprämissen der Kriminologie zu eigen zu machen ist die Befreiung vom Zwang zur theoretischen Konsolidierung oder definitorischen Bestimmung des „eigentlichen“ Gegenstands der Kriminologie als wissenschaftlicher Disziplin. 


Die Einheit im Schulenstreit 

Nimmt man stattdessen die von Steinert propagierte reflexiv wissenssoziologische und ideologiekritische Perspektive auf die Kriminologie als Ganze ein, gewinnen kritische und traditionelle Kriminologie ihre Einheit in der Differenz von Norm und Übertretung. Die Kontroverse der beiden Lager entzündet sich immer wieder an der Frage, wie das Verhältnis von Norm und Übertretung zu fassen ist, wenn man Kriminalität erklären will. Dieser dauerhaft schwelende Streit über die Ursachen von Kriminalität setzt einen stillschweigenden Konsens über die Existenz des Phänomens voraus.

Eine reflexiv erweiterte Kritik der Kriminologie zielt also nicht auf eine bessere Theorie oder Erklärung von Tat, Täter und Instanzen, sondern sowohl auf die Analyse der Funktion oder Wirkung des von dieser Disziplin hervorgebrachten Wissens als auch auf die Untersuchung des gesellschaftlichen Kontexts seiner Produktion. 

Kriminologie als Teil der Institution V&S

In ihrem Gegenprogramm zur Kriminologie schlagen Steinert und Cremer-Schäfer vor, die gesellschaftliche Institution Verbrechen & Strafen als Ausgangspunkt und Gegenstand der Analyse zu nehmen. Kriminologie ist als Ideologielieferantin sowohl ein integraler Teil dieser Institution als auch auf sie angewiesen (woher bekäme sie sonst ihre Studienobjekte). Entgegen des deklarierten Selbstverständnisses ist auch das kritische Lager nicht davor gefeit, dieser Institution gelegentlich einen nützlichen Beitrag zu liefern. So eignet sich etwa der von den kritischen Kriminologen regelmäßig vorgebrachte Hinweis auf die „gesellschaftlichen Ursachen“ von abweichendem Verhalten als Begründung für die flexible Ausdehnung des repressiv-präventiven Zugriffs diverser Kontrollinstanzen, um im Vorfeld dieser gesellschaftlichen Ursachen der manifesten Normübertretung tätig zu werden. – Die kritische Kriminologie als Zauberlehrling .... (Dialektik der Aufklärung)

Kritik durch Soziologisierung

Für die von Steinert und Cremer-Schäfer vorgeschlagene Erweiterung des theoretischen Fragehorizonts finden sich Vorläufer und Parallelen, etwa bei Popitz und Mead. Beide entwickeln Überlegungen, die ähnlich wie Steinerts Institution Verbrechen & Strafen dazu dienen sollen, das institutionalisierte Doppelpack von Norm und Übertretung, verknüpft durch die Sanktion als eine Form der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung zu analysieren, wenn auch ohne den zuspitzenden Schwenk zur Herrschaftssicherung. Beide verweigern den kriminologischen Habitus, der Kriminalität als soziales Problem und Bedrohung der sozialen Ordnung begreift. Ihr Ausgangspunkt ist die Annahme, dass der Normbruch den gesellschaftlichen Regelfall darstellt: Wie kann soziale Ordnung existieren, wenn sowohl die rechtlich kodifizierten Normen als auch die religiös, politisch und kulturell kodierten Verhaltensanforderungen im gesellschaftlichen Alltag weithin missachtet werden? Bei Popitz führt das dann zur bekannten These von der Präventivwirkung des Nichtwissens: würde das wahre Ausmaß der Normübertretungen bekannt, würde die Norm ihre (ohnehin begrenzte) verhaltenssteuernde Wirkung einbüßen (und das Sanktionssystem unter dieser Last zusammenbrechen). Die Wirkung der Norm basiert auf dem verbreiteten Glauben, dass fast alle sich an ihr orientieren und diejenigen, die das nicht tun, erwischt und bestraft werden. Mead entwickelt sein Modell der Normgeltung am Beispiel des Strafprozesses und seiner Inszenierung. In seinem Aufsatz zur Psychologie der Strafjustiz argumentiert er, dass durch den im Ritual der Gerichtsverhandlung öffentlich vollzogenen Akt der Verurteilung des Straftäters die zum (medialen) Publikum versammelte Gesellschaft sich kollektiv der Geltung der Norm versichert. In der gemeinsam zelebrierten Abscheu vor dem Normbrecher verschwinden für einen kurzen aber signifikanten Moment die disruptiven Kräfte von Neid, Missgunst und Konkurrenz. Ein nicht unerheblicher Aspekt in Meads Ausführungen ist die Kritik am rehabilitativen Modell der Strafjustiz. Es bedarf des symbolischen Theaterdonners, des Spektakels der Verurteilung zur Strafe, um die Geltung der Norm zu demonstrieren. Eine im Namen der Humanität auf Resozialisierung des Delinquenten zielende Abrüstung dieses Arrangements wäre kontraproduktiv. Heinz Steinert sprach hier treffend von symbolischer Politik mit Menschenopfern. 

An Popitz und Mead lässt sich zeigen, wie sich mit der Umpolung von Verhalten auf Verhältnisse der Fokus der Analyse verschiebt: Das Interesse gilt nicht mehr dem Kriminellen als Täter (dessen Verhalten erklärungsbedürftig und der als Person zu resozialisieren ist), sondern dem system-, ordnungs- und herrschaftsstabilisierenden Nutzen, den diese Figur für die Gesellschaft haben kann.  

Präzisierung der Kritik

Bei Steinert und Cremer-Schäfers Kritik der Kriminologie geht es jedoch nicht in erster Linie um eine Art funktionalistische Erklärung, um die Integration des Verbrechens in ein allgemeines Modell gesellschaftlicher Ordnung wie etwa bei Durkheim. Sie entwickeln ihren Ansatz der Institution Verbrechen & Strafe vor dem Hintergrund einer historisch präzisierten Gesellschaftsformation. Zu erklären sind nicht die universalen Merkmale jeder sozialen Ordnung, sondern es gilt die spezifische Rolle und historisch variable Ausformung dieser Institution bei der Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen im real existierenden Kapitalismus zu analysieren. 

Bei genauerer Betrachtung der Empirie, die der These vom Normbruch als gesellschaftlichem Regelfall zugrunde liegt, zeigt sich dann, über Popitz hinausgehend, dass ein Großteil der Konflikte, die der gesellschaftliche Alltag hervorbringt, von den Beteiligten mit Bordmitteln und ohne Einschaltung des Rechtssystems bearbeitet wird. Aus ökonomischer Macht und den daraus resultierenden Herrschaftsverhältnissen erwachsen mannigfache, gelegentlich auch gewalttätige Konflikte. Reduziert man diese Konflikte auf das einfache Modell von Normübertretungen übersieht man wichtige Dimensionen. Die herrschenden Verhältnisse fördern Betrug, Gier, Neid und Hinterlist, sie erzeugen falsche Hoffnungen, hinterlassen enttäuschte Erwartungen und gebrochene Versprechen. Aber statt sich des staatlichen Rechts zu bedienen, eine vermeintliche Normübertretung anzuzeigen und den erlittenen Schaden vor Gericht einzuklagen, bevorzugen die Geschädigten meist andere Formen des Umgangs mit ihren Problemen. Oft spiegeln die dabei gefundenen Lösungen weniger ein hehres Ideal von Gerechtigkeit als die strukturell verankerte Ungleichheit der Konfliktparteien. Wo die Kriminologie hier ein Dunkelfeld nicht angezeigter Delikte vermutet, entdeckt die Kritik der Kriminologie ein helles und weites Feld lokal produktiver Lösungen, in denen sich die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse widerspiegeln. 

Die Kritik der Kriminologie macht solche Differenzierungsgewinne möglich, da sie die theoretische und empirische Beschränkung auf Kriminalität im begrifflichen Horizont von Norm und Sanktion überwindet. Gesellschaftliche Praktiken des Umgangs mit Konflikten jenseits der staatlichen Strafjustiz werden sichtbar. Das von Mead als symbolisches Ritual par excellence analysierte Gerichtsverfahren spielt für die Konfliktlösung zwar keine große Rolle, es demonstriert jedoch wie Gemeinschaft durch Ausschluss und Verurteilung mit Hilfe von Normen erzeugt werden kann. Allerdings sind es weder beliebige noch allgemeine, für eine abstrakt gedachte gesellschaftliche Ordnung zentrale Normen, die durch Dramatisierung dem Publikum verdeutlicht werden sollen. Betrachtet man den jenseits des Gerichtssaals agierenden Verbund der hegemonialen, moralunternehmerischen Propagierung von Normen & Werten so finden sich im historischen Verlauf Konjunkturen der Normverdeutlichung. Die symbolisch aufgeladenen Strafrituale bleiben gleich, nur die Objekte ändern sich. Die Rolle der Täter wird immer wieder neu besetzt um an ihrer Verurteilung andere Normen zu verdeutlichen.

Das lässt sich an der Kriminologie selbst zeigen, die abwechselnd neue Themen, Tätertypen, Probleme, Bedrohungen und Erklärungen hervorbringt. Parallel dazu verlaufen die Konjunkturen medialer und politischer Dramatisierung und in abwechselnder Reihenfolge werden Forderungen nach mehr Repression, Rehabilitation, Prävention oder Überwachung, nach Strafverschärfung oder Entkriminalisierung erhoben. Auch hier hilft es im Sinne von Steinert genau hinzuschauen, geduldig nachzudenken und sich nicht dumm machen zu lassen, um nicht vorschnell großtheoretische historische Globalsynthesen wie etwa die viel zitierte These von der steigenden Punitivität zu akzeptieren. Als ertragreicher erweist sich hier die Rekonstruktion der Dynamik, die aus den Interessenslagen unterschiedlicher Akteure vor Ort entsteht. In der Konkurrenz um knappe (materielle, symbolische, politische) Ressourcen, um Aufmerksamkeit und Anerkennung streben diese – mal miteinander, mal gegeneinander – nach hegemonialer Deutungshoheit in der Institution Verbrechen & Strafe und die jeweils herrschende Meinung bildet weder einen Fortschritt auf dem Weg zu einem besseren, effektiveren und humaneren Umgang mit Kriminalität ab, noch belegt sie den schleichenden Untergang des Abendlands im Strudel der Punitivität. 

Kritik der herrschenden Meinung als Meinung der Herrschenden

Das von Steinert und Cremer-Schäfer propagierte reflexive Programm der Kritik der Kriminologie ist anspruchsvoll und liefert erhellende, empirisch untermauerte Einsichten, die vom Mainstream zwar zur Kenntnis genommen aber außerhalb der engeren Community, die sich diesem Programm verpflichtet fühlt, kaum rezipiert werden. Eine gewisse professionelle Randständigkeit ist – je nach Betrachtungsweise – die Voraussetzung oder der Preis der reflexiven Kritik. Ein Grund für diese Marginalität ist der hier in Anschlag gebrachte Begriff der Kritik, der auf Kant zurück geht. Für ihn war Kritik das probate Mittel zur Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Durch die Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Phänomens konnte man Gründe und Ursachen für seine Existenz, Merkmale und Eigenschaften seiner Erscheinung, Zusammenhänge und Entwicklungen die es in Raum und Zeit einordnen erkennen, verstandesmäßig erfassen und so das Phänomen verstehen und erklären. Dieses Verständnis von Kritik bildet den methodisch theoretischen Kern der Aufklärung, oder wie Max Weber es formulierte: der Entzauberung der Welt.  

Stellt man nun ernsthaft die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kriminalität also den Bedingungen, die Kriminalität als in der Gesellschaft beobachtbares Phänomen ermöglichen, landet man schnell bei den Kategorien des Strafrechts oder den Erklärungen der Kriminologie. Sucht man dort weiter nach einem tragfähigen begrifflichen Fundament wird es schnell schwammig, man stößt auf apriorischen Dezisionismus und empirisch verbrämte Meinungen, vermeintliche Zweckhaftigkeiten oder Tautologien. Also tritt man einen Schritt zurück und stellt eine andere Frage: Wenn sich das Phänomen der Kritik in der Analyse seiner Erscheinungsformen entzieht, was hält es dann zusammen, wer oder was verleiht ihm seine quasi naturgesetzliche Mächtigkeit über Leben und Tod, Freiheit und Zwang? Von hier ist es dann nur mehr ein kleiner Schritt zur Herrschaftskritik. Kritik der Kriminologie beginnt mit der Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die das Phänomen Kriminalität möglich machen und endet mit einer Antwort, die auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse als ermöglichende Bedingung verweist. Für die mit der Erforschung der Kriminalität befasste zünftige Kriminologie, für mit der Verwaltung von Kriminalität befassten Fachkräfte, vom Vollzugsbediensteten über den Sozialarbeiter bis zum Strafrichter, für den budgetverantwortlichen Rechtspolitiker sind solche Einsichten weder nützlich noch erbaulich. Da sie sich einer gemeinsam geteilten Definition verweigern, bieten sie keine nützliche Lösung. Stattdessen führen sie allen Beteiligten die eigene Verstrickung in die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse vor Augen, zeigen auf blinde Flecken und sind daher auch nur wenig erbaulich. 

Reflexivität + Radikalität = Randständigkeit

Wirft man nun einen reflexiven Blick auf das reflexive Programm der Kritik der Kriminologie und fragt nach den Bedingungen seiner Möglichkeit landet man bei den institutionellen, kulturellen und materiellen Produktionsbedingungen wissenschaftlicher Arbeit. In grober Stilisierung lassen sich hier zwei Formen oder Typen unterscheiden, die als Endpunkte eines Kontinuums ihre je spezifischen institutionellen, kulturellen und materiell-ökonomischen Ausprägungen hervorbringen. An einem Ende steht der Typus der Ingenieurswissenschaft. Hier wird in arbeitsteilig organisierten Prozessen hypothesentestende, datengetriebene experimentelle Forschung betrieben, um technisches Wissen zu erzeugen, das zur Lösung vorgegebener, in Begriffen von Machbarkeit definierter (aber nicht hinterfragbarer) Probleme dient. Ein wesentliches Qualitätskriterium ist die praktische Brauchbarkeit und zunehmend auch die euphemistisch als Innovationspotential bezeichnete wirtschaftliche Verwertbarkeit der Ergebnisse. Der stilisierte Gegenpol ist ein Modell von wissenschaftlicher Produktion als Kritik in der Tradition der Aufklärung. Dieses Modell kennt keine scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, Experten und Laien, Themen, Fragestellungen und Probleme gewinnen ihre Gestalt vor dem Hintergrund eines normativ geprägten Ideals. Empirische Forschung bedient sich primär rekonstruktiver Verfahren, mit deren Hilfe die Bedingungen der Möglichkeit des Untersuchungsgegenstandes verständlich gemacht werden können. Ziel dieser Forschung ist ein Beitrag zur Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. 

Die Produktionsbedingungen im real existierenden Wissenschaftsbetrieb sind – über alle Disziplinen hinweg – stark vom Modell der Ingenieurswissenschaft geprägt. Universitäre Forschung und Lehre auf der Basis dieses Modell befördert eine Form der akademischen Praxis, die sich an dem Ideal eines messbaren Outputs orientiert. Gegen die kulturelle Hegemonie eines vom szientistischen Objektivitätsmodell geprägten kognitiven Stils kann sich ein Forschungsprogramm wie die Kritik der Kriminologie nur schwer behaupten. Es überlebt unter diesen Bedingungen nur mehr im Modus einer wissenschaftlichen Haltung einzelner Individuen, die sich bestenfalls in den Nischen der Einrichtungen als Gruppe zusammenfinden. Heinz Steinert hat solche Nischen programmatisch und exemplarisch gefordert und gefördert.

Verliert Kritik ihren institutionellen Ort, wird sie zu einer elitären Angelegenheit, zur Privatsache, zur Praxis, die man quasi im Nebenerwerb betreibt. Heinz Steinert hat nach seiner Frankfurter Zeit diesen Modus in der Figur eines der Kritik verpflichteten Privatgelehrten verkörpert. Den gängigen Formaten der projektförmig verformten Forschung stand er ebenso kritisch bis ablehnend gegenüber, wie den Erfolgskriterien des akademischen Publikationsmarktes, der die inflationäre Mehrfachverwertung fördert. 

Dieses Schicksal des kritischen Projekts mag beklagenswert erscheinen, sollte aber eher als Momentaufnahme verstanden werden. Im Angesicht der absehbaren Nebenfolgen neuer Formen selbstverschuldeter Unmündigkeit wird der Werkzeugkasten der Kritik wieder gefragt sein. Bis dahin gilt es, ihn in Schuss zu halten.