Desinformation als Herrschaftsmittel

von Angelika Adensamer und Reinhard Kreissl

Die Europäische Union garantiert vier Grundfreiheiten: Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen sollen sich in den Grenzen der EU frei bewegen dürfen. Europa solle ein Raum von Freiheit und Sicherheit werden. Sieht man genauer hin, geht es jedoch weniger um die Freiheit von Bewegungen als um die Steuerung und Kontrolle von Strömen. Parallel zur politisch propagierten Freiheit wuchsen die Mittel und Praktiken ihrer staatlichen und privaten Überwachung. Die politische Metaphorik einer stets neu zu justierenden Balance zwischen Freiheit und Sicherheit lieferte die Begründung für den kontinuierlichen Ausbau vielfältiger Überwachungsregime, die ihre Wirkung oftmals unterhalb der alltäglichen Wahrnehmungsschwelle entfalten. Das ändert sich derzeit. Quer durch Europa werden massive Freiheitsbeschränkungen durchgesetzt. Sie sollen eine neue, europäische, globale Gefährdung verhindern. Durch freie Bewegung, so die Botschaft, verbreite sich ein bisher unbekannter Virus und bedrohe die Gesundheit der Bevölkerung. Bemerkenswert ist dabei, wie wenig über Ausmaß und Umfang, Dynamik und Entwicklung dieser Gefährdung bekannt ist. Wie groß ist die Anzahl der Infizierten, wie verläuft die Infektion, wo breitet sich der Erreger aus, welche Vorkehrungen können seine Ausbreitung eindämmen? Mangels gesicherter Erkenntnisse und begrenzter Ressourcen greift man zu Strategien, die Appelle zur Selbstbeschränkung an die Bürger mit drastischen Erweiterungen staatlicher Befugnisse zu deren Durchsetzung und Eingriffen in wesentliche Grundrechte kombinieren. 

In Österreich ist seit 16. März wegen der Corona-Pandemie der Aufenthalt im öffentlichen Raum in Österreich per Verordnung untersagt.[1] Ausgenommen von dem Verbot sind Wege, zur Abwendung von Gefahren, zur Hilfeleistung, zur Deckung der Grundbedürfnisse, zur Berufsausübung und “wenn öffentliche Orte im Freien alleine, mit Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben […] betreten werden sollen.” Diese letzte Ausnahme vm allgemeinen Verbot, den öffentlichen Raum zu betreten, wurde von Anfang an als eine “Spazier-, Sport- und Luftschnappausnahme” präsentiert. Das mag auch ihr weitgehend häufigster Anwendungsfall sein, dem Zweck nach ist sie aber nicht auf diese Fälle reduziert. Auch alleine zu Fuß zu anderen Wohnungen zu gehen, war immer erlaubt.

Am 1. April wurde der sogenannte „Ostererlass“. Mit diesem sollten auch die Besuche in privaten Wohnungen beschränkt werden. Der Erlass selber war an die Landeshauptleute gerichtet. Der Wiener Magistrat folgte dem (nicht als einziger) und erließ am 3.4. eine entsprechende Verordnung, die auch Zusammenkünfte von mehr als fünf Personen, die nicht im selben Haushalt leben, in Wien verbot. 

Die Aufregung war groß: neben einer Diskussion, ob zum Erlass einer solchen Verordnung die verfassungsrechtlichen Kompetenzen bestünden, über die Befugnisse der Polizei die damit einhergehen, [2] war insbesondere die allgemeine Verwunderung darüber groß, dass Besuche überhaupt erlaubt gewesen waren und es dafür eine eigene, neue Regelung bräuchte. Armin Wolf befragte hierzu Sektionschef Auer in der ZIB 2 am Samstag (4.4.). Auer entschuldigte sich für die Unklarheiten, stellte aber nicht klar, dass es eben schon erlaubt war, Besuche abzuhalten.

Am Montag 6.4. Wurde schließlich in der Pressekonferenz der Regierung verkündet, dass der Erlass zurückgenommen würde, weil juristisch klar sei, dass Besuche ohnehin verboten seien. Diese Klarheit unter Jurist*innen scheint es allerdings in Anbetracht der Tatsache, dass die zugrundeliegende Rechtsmeinung schwer zu halten ist, nicht wirklich zu geben und so wird einmal mehr Verwirrung darüber gestiftet, was verboten und was erlaubt ist, was man tun und was man vernünftigerweise lassen sollte. 

Die Kernfrage ist dabei nicht in erster Linie, ob Besuche erlaubt sind oder nicht, sondern wie  die Polizei mit ihrem Mandat, die politisch verlautbarten Ausgangsbeschränkungen zu vollziehen, umgehen wird und welcher Mittel sie sich dabei bedient. Es gab seit Inkrafttreten der Bewegungsverbote im öffentlichen Raum schon über 17.000 Anzeigen [3] und zahlreiche Beschwerden über unverhältnismäßige und rechtswidrige Strafen und Durchsagen und sogar die Volksanwaltschaft prüft die unverhältnismäßige Höhe der verhängten Strafen. [4]

Einer Polizei gegenüber, die sich nicht an das geschriebene Gesetz hält, die dieselben Falschinformationen der Regierung hört, wird es schwer sein, zum eigenen Recht zu kommen. Es entsteht eine massive Rechtsunsicherheit und freier Lauf für Polizeiwillkür.

Zudem ist davon auszugehen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen von derartigen polizeilichen Maßnahmen stärker betroffen sein werden als andere. All jene, denen es an komfortablen Möglichkeiten des privaten Rückzugs fehlt, die auf den öffentlichen Raum angewiesen sind, geraten eher ins Visier patrouillierender Polizeibeamten. Manchen wird es leichter fallen, ihren Aufenthalt in der Öffentlichkeit bei Kontrollen plausibel zu begründen als anderen und jene, die über ausreichend Beschwerdemacht verfügen, können sich leichter und wirksamer gegen die die Zumutung einer Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit wehren. 

Im Angesicht der so diffusen wie einschneidenden Verbote kann die Polizei entweder als bürgernahe Dienstleistungsorganisation oder als staatliche Ordnungsmacht und Verwalterin des Gewaltmonopols handeln. Sie kann aufklären, an freiwillige Einsicht und Vernunft appellieren oder vermeintliche Verstöße gegen rechtlich unscharfe und problematische Verbote sanktionieren. Das Repertoire möglicher Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Zugriff auf personenbezogene Daten, Einsatz von technischen Überwachungswerkzeugen und Verstärkung physischer Präsenz erlauben weitere Drehung der Daumenschrauben, wenn die Regierung es für erforderlich hält. Öffentlicher Protest und Kritik an dieser Entwicklung wird in dem Maße schwieriger, in dem diese Maßnahmen verschärft werden. 

 

[1] https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblAuth/BGBLA_2020_II_98/BGBLA_2020_II_98.pdfsig 

[2] Siehe dazu z.B. Prof. Funk: https://kurier.at/politik/inland/heftiger-wirbel-um-anschobers-oster-erlass/400803371

[3] https://www.addendum.org/coronavirus/was-ist-erlaubt

[4] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20200406_OTS0068/volksanwalt-walter-rosenkranz-anzeigen-und-strafpraxis-der-polizei-bei-corona-verstoessen-wird-amtswegig-geprueft