Methode für einen rechtebasierten Ansatz in der individuellen Beurteilung der Bedürfnisse von minderjährigen Opfern
Project: E-Protect
Authors (VICESSE): Daniela Amann, Michaela Scheriau
Published: 2019
Full text available here.
Abstract:
Die Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten stellt durch die Erkenntnis, dass nicht nur die Verurteilung der TäterInnen, sondern auch der Schutz der Opfer und die Stärkung ihrer Rechte als Ziele eines Strafverfahrens zu betrachten sind, einen Paradigmenwechsel im Strafrecht dar. In einigen Staaten wurden bereits ähnliche Vorgaben aus internationalen Rechtsabkommen umgesetzt – die Richtlinie ermöglichte eine Harmonisierung und Vereinheitlichung der nationalen Gesetzgebungen sowie die Etablierung gemeinsamer Regelungen und Standards in den Mitgliedsstaaten. Der Zugang resultierte dabei zu großen Teilen aus zwei konvergierenden Problemstellungen.
Zunächst war bei bestimmten Straftaten eine sehr niedrige Verurteilungsrate zu beobachten, häufig in Verbindung mit geschlechtsspezifischer Gewalt oder Gewalt gegen Kinder, wie z.B. Kinderhandel oder sexueller Missbrauch. Die Opfer und ihre Aussagen sind bei derartigen Straftaten als zentrales Element für die Beweiserhebung, Verfolgung und Verurteilung der TäterInnen zu sehen. Durch Beziehungen zu den TäterInnen, Angst vor Vergeltung oder suboptimale Bedingungen im Justizsystem werden sie jedoch häufig an ihrer Aussage gehindert. Darüber hinaus müssen während der Befragung bestimmte Garantien zur Anwendung kommen, um sicherzustellen, dass die Aussage als Beweismittel im Verfahren verwendet wird.
Die zweite Überlegung betrifft die Opferrechte, vor allem bei Kindern, und die Notwendigkeit, sie vor dem institutionellen Gewaltpotenzial eines Strafverfahrens zu schützen. Wenn Opfer ihre Geschichte mehrfach wiederholen müssen, ihre Glaubwürdigkeit scheinbar in Frage gestellt wird, das System einschüchternd und unverständlich wirkt und keine oder nicht ausreichende Maßnahmen für die Bewältigung der Konsequenzen des Prozesses getroffen werden, kann dies zu sekundärer Viktimisierung und vor allem bei Kindern zu wiederholten Traumata führen, die durch die Art und Weise, wie der Fall seitens der Justiz behandelt wird, hervorgerufen werden.
Auf internationaler Ebene wurden im Laufe der Zeit verschiedene Standards eingeführt, um einerseits der Notwendigkeit gerecht zu werden, Strafverfahren mit der nötigen Beweiserhebung zu führen, und andererseits dem Schutzbedürfnis der Opferrechte bei Kindern nachzukommen. Darunter finden sich die UN-Kinderrechtskonvention (1989) und ihre beiden Zusatzprotokolle (2000), das Protokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, als Zusatzprotokoll zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (Palermo-Protokoll, 2000), die Leitlinien der Vereinten Nationen für den Schutz kindlicher Opfer und Zeugen von Straftaten in Justizverfahren (2005), das Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention, 2007) und die Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz (2010). Die EU-Opferschutzrichtlinie baut auf diesen Instrumenten auf, mit dem Ziel, die Vorgehensweise unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu harmonisieren.