Wider das österreichische N-Wort
Die Aufgabe der Politik ist die Herbeiführung kollektiv bindender Entscheidungen, das Wesen der Politik ist Kampf und der Sinn jeder republikanisch-demokratischen Verfassung ist der Schutz von Minderheiten in der Auseinandersetzung um die richtige Gestaltung des Gemeinwesens.
Der globale Rechtspopulismus – von den USA bis nach Niederösterreich – unterläuft diese Binsenweisheiten der politischen Theorie, die man gerne den hiesigen Akteuren auf der politischen Bühne ins Poesiealbum schreiben würde.
Vernünftige Politik kann sich weder auf das Volk, noch die Nation, oder gar eine fantasierte Mehrheit der Normalen berufen. Moderne Gesellschaften ähneln eher einem Patchwork von Minderheiten, die Nation ist in der globalisierten Welt gegenseitiger ökonomischer und ökologischer Abhängigkeiten ein verblasster Mythos und die derzeit beschworenen Normalen sind eine statistische Fiktion aus dem diffusen Repertoire der Umfrageforschung.
Die Konflikte, die eine globale Risikogesellschaft hervorbringt sind mit solchen Begrifflichkeiten weder zu beschreiben, geschweige denn zu verstehen oder zu bearbeiten. Sie lassen sie verschwinden und entbinden die politische Klasse damit von der Aufgabe, sich ihnen ernsthaft zu stellen. Kollektivbegriffe und diffuse Gemeinwohlformeln vernebeln die Sicht und verhindern notwendige Auseinandersetzungen.
Statt widerstreitende Interessen und Konflikte über die Verteilung von Lasten und Pflichten, Reichtum und Güter, Befriedigung von Bedürfnissen und Anerkennung von Lebensformen zu artikulieren, wird gebetsmühlenartig das Allgemeinwohl der Ehrlichen, Fleißigen, Normalen beschworen, apostrophiert als „unser“ Wohlergehen, das von denen, die nicht zu den „Unseren“ zählen, gefährdet wird.
Aber es ist nicht der vermeintliche Konsens, es sind die Konflikte, die eine Gesellschaft ausmachen, die den Landwirt mit der Umweltschützerin, den Immobilienbesitzer mit der Mieterin, den Unternehmer mit seinen Beschäftigten, den arbeitslosen Jugendlichen mit dem Pensionisten, Ansprüche der Männer mit den Rechten der Frauen verbinden. Im Widerstreit der Interessen tut man gut daran, der Gegenseite zu misstrauen und für die eigenen Anliegen mit allen Mitteln zu kämpfen. Vernünftige Politik hätte der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Qualität des Ergebnisses nicht in fragwürdigen Zustimmungsquoten der Demoskopie zu bemessen ist. Sie hätte die Konflikte zu überführen in eine gewaltfreie und offene Konfrontation und – im besten Fall – in eine, die widerstreitenden Interessen vernünftig verknüpfende kluge Entscheidung. Der Ausgang solcher Konfrontationen ist offen, er hängt nicht nur vom besseren Argument, sondern auch vom Macht- und Drohpotential der involvierten Parteien ab. Es wäre die Aufgabe des parlamentarischen Prozesses, eingehegt in ein funktionierendes System einer Staatsverfassung, solche Machtasymmetrien ein Stück weit zu neutralisieren. Mit der Anrufung abstrakter Gemeinsamkeit oder der gegenseitigen Aberkennung politischer Satisfaktionsfähigkeit ist diese Aufgabe nicht zu lösen.
Hinter der Diskussion über die Normalen verbirgt sich die Leere und Ratlosigkeit eines politischen Gemeinwesens, das im Angesicht der drängenden Frage: wie sollen wir, wie wollen wir (über)leben ratlos bleibt.